Sonntag, 12. Juni 2016

Robert Musil am Neckar

Im Ingenieurlaboratorium des Maschinenbauinstituts der TH Stuttgart

Ingenieurlaboratorium Berg
AK Martin Rommel & Co. Stuttgart No. 66414

Vom Oktober 1902 bis zum April 1903 arbeitete Robert Musil als Volontärsassistent a Ingenieurlaboratorium des Maschinenbau-Professors Carl von Bach. In den 1890er Jahren gelang es Bach ein eigenes Gebäude für die praktischen Übungen der Studenten zu erhalten. Das Gebäude, in dem Musil arbeitete, stand in der Nähe der König- Karls-Brücke, in der Poststraße in Stuttgart Berg, es war 1899 fertigestellt worden. 

Roberts Vater Alfred Musil war Maschinenbau-Professor an der TH Brünn. Dort hat auch Robert Maschinenbau studiert. Die Stelle bei dem berühmten Professor Bach erhielt er sicherlich durch die Vermittlung seines Vaters. Eine Bezahlung bekam der Volontärsassistent übrigens nicht. Für den Lebensunterhalt mussten weiterhin seine Eltern aufkommen. Der Nutzen, den Bach von seinem Volontär hatte, dürfte aber auch nicht übertrieben groß gewesen sein. Robert Musil begann in dieser Zeit damit, seinen Roman "Die Verwirrungen des Zöglins Törleß" zu schreiben, der 1906 erschien. Zudem lernte er auch Latein und Griechisch für die Gymnasial-Matura. Sie war Voraussetzung für das Philosophie-Studium, das er im Oktober 1903 in Berlin aufnahm.
Musil äußert sich in "Vermächtnis II" zu dieser Zeit:

"Ich war 22 Jahre alt, trotz meiner Jugend schon Ingenieur und fühlte mich in meinem Beruf unzufrieden. Jeden Abend um 1/2 9 Uhr besuchte mich eine Freundin, aus dem Büro kam ich aber schon um 6 Uhr nach Hause. Stuttgart, wo sich das abspielte war mir fremd und unfreundlich, ich wollte meinen Beruf aufgeben und Philosophie studieren (was ich bald auch tat), drückte mich vor meiner Arbeit, trieb philosophische Studien in meiner Arbeitszeit, und am späten Nachmittag, wenn ich mich nicht mehr aufnahmefähig fühlet, langweilte ich mich. So geschah es, daß ich etwas zu schreiben begann, und der Stoff, der gleichsam fertig dalag, war eben der der Verwirrung des Zögings Törleß."
 
Während seiner Zeit im Ingenieurlaboratorium wohnte er in der Urbanstraße 46. Heute liegt schräg gegenüber die neue Staatsgalerie von James Stirling. Eine Tafel am Haus weist auf den illustren ehemaligen Bewohner hin.



Ingenieurlaboratorium

Bach: Ingenieurlaboratorium der K. Technischen Hochschule Stuttgart 1901, S. 3
Maschinensaal im Ingenieurlaboratorium
Das Gebäude in Berg diente als Ingenieurlaboratorium für die Ausbildung der Maschinenbau-Studenten der TH Stuttgart. Die Lage am Neckarkanal außerhalb der Stadt war wichtig, weil hier der Lärm die Nachbarn nicht störte und weil der erhebliche Wasserbedarf für die Maschinen günstig aus dem Kanal gedeckt werden konnte. 
Was Musil hier neben Törleß und Matura-Vorbereitung gearbeitet hat, ist nicht bekannt. Er selbst hat dazu nichts hinterlassen. Man könnte spekulieren, dass er wohl mit der Betreuung der Studenten zu tun gehabt hat.
Im selben Gelände in Berg, direkt neben dem Ingenieurlaboratorium wurde 1907 ein Gebäude für die Materialprüfungsanstalt erstellt. Davor war die Materialprüfungsanstalt auf den Keller im Hochschulgebäude angewiesen.

Der Ingenieur im Mann ohne Eigenschaft

Unbekannt ist auch, ob das Bild vom etwas bieder und engstirnigen Ingenieur von seinen Erfahrungen  im Ingenieurlaboratorium beeinflusst wurde, wie er es im "Der Mann ohne Eigenschaften" im 10. Kapitel dargestellt hat.
"Das war zweifellos eine kraftvoll Vorstellung vom Ingenieurwesen. Sie biledet den Rahmen eines reizvollen zukünftigen Selbstbildnisses, das einen Mann mit entschlossenen Zügen zeigte, der eine Shagpfeife zwischen Zähnen hält, eine Sportmütze aufhat und in herrlichen Reitstiefeln zwischen Kapstadt und Kanada unterwegs ist, um gewaltige Entwürfe für sein Geschäftshaus zu verwirklichen. Zwischendurch hat man immer noch Zeit, gelegentlich aus dem technischen Denken einen Ratschlag für die Einrichtung und Lenkung der Welt zu nehmen. ..."
"Es ist schwer zu sagen, warum Ingenieure nicht ganz so sind, wie es dem entsprechen würde. Warum tragen sie beispielsweie so oft eine Uhrkette, die in einseitigem steilen Bogen von der Westentasche zu einem hochgelegen Knopf führt, oder lassen sie über dem Bauch eine Hebung und zwei Sekungen bilden, als befände sie sich in einem Gedicht? Warum gefällt es ihnen Busennadeln mit Hirschzähnen oder kleinen Hufeisen in ihre Halsbinden zu stecken? Warum sind ihre Anzüge so konstruiert wie die Anfänge des Automobils? Warum endlich sprechen sie selten von etwas anderem als ihrem Beruf; und wenn sie es doch tun, warum haben sie dann eine besondere, steife, beziehungslose, äußere Art zu sprechen, die nach innen nicht tiefer als bis zum Kehldeckel reicht? Beiweitem gilt das natürlich nicht bei allen, aber es gilt von vielen, und die, welche Ulrich nun kennen lernte, als er zum erstenmal den Dienst in einem Fabrikbüro antrat, waren so, und die, die er beim zweitenmal kennen lernte, waren auch so. Sie zeigten sich als Männer, die mit ihren Reißbrettern fest verbunden waren, ihren Beruf liebten und in ihm eine bewunderserte Tüchtigkeit besaßen; aber den Vorschlag, die Kühnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden, würden sie ähnlich empfunden haben wie die Zumutung, von einem Hammer den widernatürlichen Gebrauch eines Mörders zu machen."

Quellen:
Carl von Bach: Ingenieurlaboratorium der K. Technischen Hochschule Stuttgart. Stuttgart 1901
Cornelia Blasberg: Verwirrungen eines Ingenieurs. Robert Musil in Stuttgart 1902 - 1903. Spuren 7. Marbach 1989, S. 6 Blasberg verlegt den Bezug der Materialprüfungsanstalt in Berg in das Jahr 1903 vor. 1903 wurde erst der Bau beschlossen, siehe Ditchen.  
Karl Corino: Robert Musil. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 121, S. 199f, Corino verwechselt allerdings das Ingenieurlaboratorium mit der Materialprüfungsanstalt, S. 1879
Henryk Ditchen: Geschichte der Materialforschung in Europa. In: Klaus Hentschel und Josef Webel (Hrsg): Geschichte und Praxis der Materialforschung. Diepholz 2016, S. 90f Standorte der Materialprüfungsanstalt in Stuttgart
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Berlin 1930 und 1933
Robert Musil: Vermächtnis II. In: R. M.: Gesammelte Schriften in 9 Bänden, hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek 1978. Bd 7 S. 954

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